Da im letzten „Ritter der Immaculata“ aus Versehen das Ende des Artikels über die Mutter der Barmherzigkeit fehlte, stellen wir unseren Lesern hier nochmals den vollständigen Artikel zur Verfügung.
Clemens van Ryt
Maria, Mutter der Barmherzigkeit
(Der folgende Beitrag wurde in Anlehnung an den englischsprachigen Text „Maria Mater Misericordiae“ von Pater Karl Stehlin geschrieben. Zitate ohne Fußnoten sind diesem Text entnommen.)
Bereits in den Schriften der Kirchenväter finden wir die liebe Gottesmutter unter dem Titel „Mutter der Barmherzigkeit“. Der heilige Bernhard von Clairvaux erläutert ihn ein wenig, wenn er zur Gottesmutter sagt: „Gott vertraute dir die ganze Ordnung der Barmherzigkeit an!“ Die folgenden Ausführungen wollen helfen, noch tiefer in die Bedeutung dieses Namens einzutauchen.
Die göttliche Barmherzigkeit
Das lateinische Wort Misericordia (miser = elend/arm/unglücklich, und cor = Herz) heißt so viel wie ein Herz für den Armen, Elenden, Unglücklichen haben. Nur wer arm ist, kann also Barmherzigkeit empfangen, nur wer ein reiches Herz hat, kann Barmherzigkeit schenken.
Thomas von Aquin lehrt daher, dass Barmherzigkeit im eigentlichen Sinne nur Gott zugesprochen werden kann. Denn in ihm allein gibt es keine Armut. Nicht umsonst bezeichnet der hl. Thomas die Barmherzigkeit als das größte der Attribute Gottes; Gott öffnet sein Herz und schenkt seine Gaben den Geschöpfen, die aus sich nichts haben.
Beim hl. Augustinus lesen wir, dass die Barmherzigkeit die Gerechtigkeit Gottes mildert. Die Gerechtigkeit wird durch die Barmherzigkeit nicht aufgehoben. Gerechtigkeit ist ein Ausdruck von Gottes Heiligkeit; sie begründet Ordnung und Harmonie; sie gibt jedem, was er verdient; sie belohnt das Gute und bestraft das Böse. Es sind Häresien, die zwischen der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Gottes einen Widerspruch herstellen, so als würden sie sich gegenseitig ausschließen. In Wirklichkeit ergänzen und vervollkommnen sie sich.
Stufen der Barmherzigkeit
Wie wir oben bereits gesehen haben, muss es einen Unterschied geben zwischen dem, der Barmherzigkeit übt, und dem, der Barmherzigkeit erfährt. So gesehen ist ein Akt der Barmherzigkeit größer, wenn
- der, der Barmherzigkeit übt, höher steht
- der, dem Barmherzigkeit zuteilwird, niedriger steht
- die Stufe, zu der der niedriger Stehende erhöht wird, höher ist.
Wenn wir nun diese Punkte der Reihe nach betrachten, stellen wir zunächst fest: Gott ist die Quelle allen Seins, nichts reicht auch nur im Entferntesten an ihn heran. Aus dieser Überlegung folgt automatisch: Alles außer Gott ist an sich nichts! Die unendliche Fülle des Seins steht der unendlichen Leere des Nichts gegenüber.
Es ist schließlich eine gewaltige Erhebung vom Nichtsein zum Sein, die Gott durch die Schöpfung bewirkt. Doch die Göttliche Barmherzigkeit ging sogar weit darüber hinaus: Sie stattete den Menschen nicht nur mit einer lebendigen und unsterblichen Seele aus; sie schenkte dieser außerdem die heiligmachende Gnade,[1] erfüllte sie auf diese Weise mit göttlichem Leben und befähigte sie, Gott selbst zu schauen (Joh 17,3). Er machte den Menschen zum Teilhaber der göttlichen Natur (2 Petr 1,4).
Wir sehen also, dass die Barmherzigkeit Gottes in jeder Hinsicht eine unendliche ist. Dieser Größe steht unsere Kleinheit gegenüber, deren Anerkennung unsere Demut zur Folge haben muss.
Die Barmherzigkeit Gottes in Maria
Ist die Barmherzigkeit das größte Attribut Gottes, so ist die Demut das größte Attribut eines Geschöpfes; sie ist die Grundlage aller Tugenden und des geistlichen Fortschritts. Nur in ein offenes, von sich selbst freies Gefäß kann Gott seine göttliche Fülle eingießen. Ein solch geistliches Gefäß finden wir in Maria. Dieser freie Akt der Offenheit Mariens kommt von ihrer tiefen Erkenntnis des eigenen Nichts einerseits und der Größe Gottes andererseits. Das ist Demut! Und es ist jene Haltung der Demut, die Maria sich selbst vollkommen vergessen lässt, die sie schließlich auch ihre Kleinheit und Schwachheit vergessen und auf Gott schauen lässt. Auf diese Weise war sie fähig, ihn ganz in sich aufzunehmen und ihn frei in ihr wirken zu lassen.
Wir erkennen diese Demut Mariens bereits bei der Verkündigung: Der Engel deutet bei der Begrüßung Mariens die erhabene Würde an, zu der sie auserwählt und berufen ward. Sie selbst aber erschrickt bei diesem Gruß (Lk 1,29), dessen Größe und Erhabenheit sie kaum auf sich zu beziehen wagt. Und nachdem der Engel ihr ihre erhabene Berufung geoffenbart hatte, antwortet sie mit einem einfachen: „Siehe die Magd des Herrn, es geschehe mir nach deinem Wort.“[2] (Lk 1,37f.) Maria vergisst sich selbst und stellt sich ganz Gott zur Verfügung. Gott will ihre aktive Zustimmung; etwas anderes als Zustimmung zu Gottes Willen ist bei ihr jedoch von vornherein außerhalb ihrer Vorstellungskraft.
Die Echtheit und Tiefe ihrer Demut bewahrheitet sich kurze Zeit darauf bei der Begrüßung durch Elisabeth. Auf den Lobpreis ihrer Base reagiert die allerseligste Jungfrau nicht mit einer gekünstelten Bescheidenheit oder einem Abwehren, vielmehr preist sie Gott aus ganzem Herzen. Sie anerkennt die Gabe Gottes, die sie nicht verleugnen kann, ohne den Geber zu beleidigen. Doch zu allererst preist sie Gott und bekennt zugleich: „…denn auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut.“ (Lk 1,48.) Dabei bekennt sie nicht nur ihre Niedrigkeit und Nichtigkeit, zu der sie sich als Geschöpf bekennen muss. Vielmehr begründet sie ihre Begnadung sogar mit dieser Niedrigkeit und sagt: „denn auf die Niedrigkeit…“. Sie sagt damit nichts weniger, als dass Gott ihr viel Barmherzigkeit erweisen konnte, weil sie niedrig, klein und gering war. Das bedeutet aber, dass sie in ihrer tiefen Demut ihre Kleinheit so tief erfasst, anerkannt und gelebt hatte, dass es Gott andererseits auch möglich war, seine ganze Barmherzigkeit in ihr Herz einzugießen.
Mutter der Barmherzigkeit
Maria bildet durch ihre Demut gleichsam das geschöpfliche Gegenstück zur Barmherzigkeit Gottes. Seiner Größe entspricht ihre Niedrigkeit. Durch die Tugend der Demut öffnet die allerseligste Jungfrau der Barmherzigkeit Gottes alle Türen, bis diese in ihrem Schoße Fleisch annimmt und Mensch wird. Geradezu leibhaftig nimmt sie die Barmherzigkeit Gottes in sich auf und wird durch die Geburt des Erlösers auf augenscheinliche Weise selbst Quelle der Barmherzigkeit Gottes für die Welt.
Diese Barmherzigkeit, welche die Gottesmutter erfüllte, war also nicht nur ein Empfangen, sondern auch ein teilhaftig Werden und Weiterschenken. In der Tat finden wir die allerseligste Jungfrau künftig an der Seite ihres göttlichen Sohnes, um sein Werk der Offenbarung der göttlichen Barmherzigkeit auf Erden zu begleiten. Wir sehen ihre mütterliche Sorge bei der Hochzeit zu Kana (Joh 2,1ff.) und schließlich ihre Demut und Hingabe an den Willen Gottes unter dem Kreuz. Was ihr göttlicher Sohn am Kreuze litt, litt sie im Herzen für die Kirche mit, und der Herr übergibt ihr mit Johannes die Schar Seiner Jünger zur mütterlichen Obhut (Joh 19,26f.). Sie wird künftig der verlängerte Arm und der bildhafte Ausdruck seiner eigenen Barmherzigkeit sein, die er den Menschen schenken will.
Maria als Mutter ihrer Kinder
Wie erfüllt die Gottesmutter nun ihre Sendung an uns? Zunächst betrachtet sie uns alle als ihre geliebten Kinder. Als Mutter ahmt sie den Vater in seiner Liebe nach. Zur hl. Gertrud sagte die seligste Jungfrau: „Sie sollten meinen süßesten Jesus nicht meinen einzigen Sohn nennen, sondern vielmehr meinen erstgeborenen Sohn. Ich empfing zuerst ihn in meinem Schoß, aber nach ihm, oder vielmehr durch ihn, empfing ich jeden von euch, um seine Brüder und meine Kinder zu werden, indem ich euch im Schoße meiner mütterlichen Liebe an Kindes statt angenommen habe.“
Maria lebt diese ihre Sendung als Mutter zunächst durch ihr Leiden. Ihren erstgeborenen Sohn empfing und gebar sie in geistlicher Freude. All ihre anderen Kinder gebiert sie in Schmerzen; und zwar gibt es da einen schrecklichen Tausch: Anstelle ihres Sohnes empfing sie uns; anstelle der Liebe selbst empfing sie laue und ihr feindlich gesinnte Menschen; anstelle Gottes empfing sie schmutzigen Staub. Sie erfuhr in ihrem Herzen das Leiden, das Sterben und den Tod ihres geliebten Sohnes, für den allein sie lebte; und was sie erhielt, war jener Tausch. Doch in diesem Tausch wendet sich ihre ganze mütterliche Liebe zu ihrem erstgeborenen Sohn uns zu und schließt uns als seine Brüder, als ihre Kinder in ihre liebenden Arme.
Dass wir Maria zur Mutter haben dürfen, bedeutet viel! In ihr vereint sich die Niedrigkeit eines reinen Geschöpfes mit der erhabenen Größe der Mutter Gottes selbst. Selbst ganz ohne Sünde, blickt sie mit der Liebe ihres göttlichen Sohnes doch voller Mitleid auf die Sünder herab. In ihr haben wir also eine „Mutter, die nicht Gott ist, die nur Mensch und einfach Mutter ist; der man sich trotz aller Sünde unbeschwert nahen kann, die einen mit mütterlicher Liebe empfängt; die nicht strafen muss, die reine Güte sein darf, die bei Gott für uns Fürsprache einlegt und uns vorbereitet, überhaupt vor Gott hintreten zu können; eine Fürsprecherin, die als gütige Mutter beim Vater alles erlangen kann“[3] und die von Gott selbst am Kreuz den Auftrag erhielt, eben diese Aufgabe wahrzunehmen.
Wir als die Kinder unserer Mutter
Wie ihr göttlicher Sohn für das Werk der Erlösung Werkzeuge zu Hilfe beruft, so bedient sich auch die allerseligste Jungfrau ihrer Kinder als Werkzeuge für das Werk der Barmherzigkeit; an ihre Seite und mit ihrer Hilfe sollen sie Boten der Barmherzigkeit sein und ihre Herrschaft in den Seelen ausbreiten helfen. Wie aber wird man ein solches Werkzeug ihrer Barmherzigkeit? Zuallererst müssen wir Maria um die Liebe der Mutter bitten, um die Sehnsucht, ihren Kindern die Gnade zu vermitteln. Wenn diese Sehnsucht wächst, wird unser eigenes Leben mehr und mehr mit Barmherzigkeit erfüllt werden. Wir werden die Welt immer mehr mit den Augen der Barmherzigkeit sehen; wir werden die Armut der Welt erkennen und der Eifer für die Seelen wird in uns wachsen. Wir werden eine Sehnsucht spüren, dieser Armut abzuhelfen. Dies kann dann auf verschiedenen Wegen geschehen: Durch unser Gebet, durch unser eigenes gutes Beispiel, durch Worte, durch Schriften usw.
Doch das ist noch wenig, es braucht noch mehr! Wir müssen uns ihre Herzensgesinnung zu Eigen machen, und dazu gehört das Leiden um der Seelen willen, die Geburtswehen der Geburt der Seelen für Christus. Wie die Gottesmutter unter dem Kreuz das Leiden ihres Sohnes in ihrem Herzen gelitten hat, so muss auch der Ritter der Immaculata das Leiden Christi in sein Herz aufnehmen. Er kann dazu z.B. das Leiden Jesu bei der schrecklichen Todesangst im Ölgarten betrachten und sich dabei mit dem Leiden Christi vereinigen: „Oh Maria, drücke deines Sohnes Wunden tief in meine Seele ein.“
Der hl. Ludwig-Maria de Montfort beschreibt treue Sklaven und Apostel Mariens in den späteren Zeiten folgendermaßen: „Das Kreuz in ihrer rechten Hand und der Rosenkranz in ihrer linken.“ Hiermit deutet er für die Knechte Mariens auf die Notwendigkeit hin, Jesus und Maria im Leiden so tiefgreifend wie möglich nachzuahmen und sich immer öfter mit ihnen zu vereinen.
Abgesehen davon sollen wir jedoch auch alle sonstigen Mittel nutzen, die uns zur Verfügung stehen, um sie als Werkzeuge für den Siegeszug der Immaculata nutzbar zu machen. Dieser beginnt bei der Vereinigung der Seele mit Jesus und Maria, der Versenkung in das Leiden des göttlichen Erlösers und wirkt fort in der Sehnsucht nach der Rettung der Seelen, das im konkreten Apostolat mündet. Je nach Stand, Umständen, Eifer und unter Beachtung der Klugheit kann dann alles zu einem Kanal der Gnade werden.
Maria, Quelle der Hoffnung
Als Mutter der Barmherzigkeit ist uns, den traurigen Kindern Evas, Maria eine Quelle der Hoffnung und der Zuversicht. Sie verwaltet den Reichtum der Barmherzigkeit Gottes und teilt uns in vollen Zügen davon aus, sooft wir ihr vertrauensvoll nahen. Zugleich will sie uns anstecken mit ihrer Liebe, mit ihrer Sehnsucht nach der Rettung der Seelen, mit ihrem Eifer für die Ausbreitung ihres Reiches der Barmherzigkeit. Wir aber dürfen und sollen uns anstecken lassen, sollen durch die Betrachtung eintauchen in die Geheimnisse des Kreuzes, sollen Werkzeug werden in der Hand der Immaculata.
[1] Vgl. Ott, L.: Katholische Dogmatik, Bonn 112010, S. 163f.
[2] Selbst das „ich bin“, das wir in den deutschen Übersetzungen oft einfügen, findet sich weder im lateinischen noch im griechischen Grundtext.
[3] Ryt, C. v.: Der Brunnen in der Wüste, Aachen 2017, S. 200.