„Nehmt euch Zeit und seht, dass ich Gott bin.“

„Nehmt euch Zeit und seht, dass ich Gott bin.“

BernhardDer hl. Bernhard von Clairvaux hat 1148 an Papst Eugen III., seinen ehemals untergebenen Mönch, einen Brief über die Gefahren der Überbeschäftigung geschrieben. Da eine der drei Säulen der Fastenzeit (neben Fasten und Almosen) das Gebet – also die Zeit für Gott – ist, und der Stress, die Überbeschäftigung, heute ein allgemeines Übel ist, passt dieser Brief ausgezeichnet in die Fastenzeit und kann uns anspornen, bewusster Zeit für das Nachdenken in der Gegenwart Gottes (die Betrachtung) zu nehmen.   

Bernhard von Clairvaux: Über die Besinnung an Papst Eugen: Sämtliche Werke, Bd. I, hg. von P. Gerhard B. Winkler, Innsbruck (Tyrolia-Verlag) 1990, 629-635 (gekürzt).

Womit soll ich also beginnen? Vielleicht mit deinen Beschäftigungen, denn in diesem Punkt habe ich mit dir am meisten Mitleid. Ich sagte: Mitleid; das setzt jedoch voraus, dass auch du leidest. Sonst hätte ich eher sagen müssen: „Ich leide deinetwegen“, denn das Wort Mitleid passt nicht, wenn niemand leidet.

Wenn du also leidest, leide ich mit dir, wenn nicht, leide ich trotzdem, ja sogar sehr, denn ich weiß, dass sich ein Glied noch weiter von der Gesundheit entfernt, wenn es gefühllos geworden ist, so wie ein Kranker, wenn er den Ernst seines Leidens nicht erfasst.

Das ist der Grund, warum ich mir immer um dich Sorgen gemacht habe und mache: Ich fürchte, dass du inmitten deiner zahlreichen Beschäftigungen, deren Ende du nicht absiehst, deine Stirn verhärtest und dich nach und nach selbst der gerechtfertigten und nützlichen Schmerzempfindung beraubst.

Viel klüger wäre es, dich von ihnen zumindest zeitweilig loszureißen, als dich von ihnen mitreißen und – langsam, aber sicher – dorthin führen zu lassen, wohin du nicht willst. Wohin, fragst du? Zu einem verhärteten Herzen. Doch frage nicht weiter, was das denn sei! Wenn du nicht erschrocken bist, ist es das deinige.

Niemand hat mit einem verhärteten Herzen je das Heil erlangt, außer wenn ihm Gott in seinem Erbarmen vielleicht – wie der Prophet sagt – das Herz aus Stein aus der Brust nahm und ihm ein Herz von Fleisch gab.

Was also ist ein verhärtetes Herz? Eines, das sich von keiner Reue zerreißen, keiner Liebe erweichen und keinen Bitten rühren lässt. Es lässt sich durch Drohungen nicht bewegen und wird bei Schlägen trotzig. Bei Wohltaten zeigt es sich undankbar, Ratschlägen gegenüber misstrauisch; unmenschlich den Menschen und vermessen Gott gegenüber; es vergisst die Vergangenheit, vernachlässigt die Gegenwart und kümmert sich nicht um die Zukunft. Um alle üblen Eigenschaften dieses schrecklichen Übels kurz zusammenzufassen: es fürchtet Gott nicht und nimmt auf keinen Menschen Rücksicht.

Sieh, wohin dich diese verfluchten Beschäftigungen bringen können, wenn du fortfährst, wie du begonnen hast, dich ihnen ganz anheimzugeben, und nichts von dir für dich zurückbehältst! Du verlierst deine Zeit und richtest dich in unnützer Mühe mit diesen Dingen zugrunde, die nur den Geist niederdrücken, das Herz entleeren und die Gnade entkräften. Denn was ist die Frucht von all dem? Nur ein Spinnengewebe!

Wenn Du Dein ganzes Leben und Erleben völlig ins Tätigsein verlegst und keinen Raum mehr für die Besinnung vorsiehst, soll ich Dich da loben? Darin lobe ich Dich nicht. Ich glaube, niemand wird Dich loben, der das Wort Salomos kennt: Wer seine Tätigkeit einschränkt, erlangt Weisheit (Jesus Sirach 38, 25). Und bestimmt ist es der Tätigkeit selbst nicht förderlich, wenn ihr nicht die Besinnung vorausgeht.

Du fragst, was das sei: pietas (Andacht). Sich Zeit nehmen für das Nachdenken.

Du sagst vielleicht, ich stimmte damit nicht mit dem überein, der pietatis als Gottesverehrung definiert hat (Hiob 28, 28) Das ist nicht wahr. Wenn Du gut nachdenkst, habe ich mit eigenen Worten das gleiche gesagt, was er meint, wenn auch unter einem bestimmten Gesichtspunkt. Denn was ist wesentlicher für den Gottesdienst als das, wozu Gott selbst im Psalm ermahnt: Nehmt euch Zeit und seht, dass ich Gott bin (Psalm 46, 11)? Und das ist doch das wichtigste beim Nachdenken.

Fange damit an, dass Du über Dich selbst nachdenkst, damit Du Dich nicht selbstvergessen nach anderem ausstreckst. Was nützt es Dir, wenn Du die ganze Welt gewinnst und einzig Dich verlierst? Denn wärest Du auch weise, so würde Dir doch etwas zur Weisheit fehlen, solange Du Dich nicht selbst in der Hand hast. Wieviel Dir fehlen würde? Meiner Ansicht nach alles.

Keiner ist also weise, der nicht über sich selbst Bescheid weiß. Ein Weiser muss zunächst in Weisheit sich selbst kennen und als erster aus seinem eigenen Brunnen Wasser trinken. Fang also damit an, über Dich selbst nachzudenken, und nicht nur dies: lass Dein Nachdenken auch bei Dir selbst zum Abschluss kommen. Wohin Deine Gedanken auch schweifen mögen, rufe sie zu Dir selbst zurück, und Du erntest Früchte des Heils. Sei Du für Dich der erste und der letzte Gegenstand des Nachdenkens.

Wenn es um Dein Heil geht, hast Du keinen besseren Bruder als Dich selbst. Verschließe Dich vor allen Gedanken, die gegen Dein Heil sind. Was immer sich Deinen Gedanken anbietet: weise es zurück, wenn es nicht auf irgendeine Weise mit Deinem Heil zu tun hat.

So halte Dir für Deine Selbsteinschätzung gleichzeitig vor Augen, woher wir in Wirklichkeit stammen, und wie geheimnisvoll wir erlöst sind.

 

 

 

 

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