Der hl. Thomas und die Gottesmutter

Der hl. Thomas und die Gottesmutter

Bildschirmfoto 2024 03 05 um 21.06.41 Vor 750 Jahren, am 7. März 1274, ging Thomas von Aquin in den Himmel ein. Schon seine Zeitgenossen haben gestaunt über das enorme Wissen des hl. Thomas und sie haben sich gefragt: Woher hat er das alles? Kurz vor seinem Tod, so berichtet uns sein erster Biograph, Wilhelm von Tocco, vertraute der hl. Thomas seinem Gefährten an: Die selige Jungfrau, die ruhmreiche Mutter Gottes, sei ihm erschienen; sie habe ihm über sein Leben und über seine Wissenschaft Sicherheit gegeben und versichert, dass er erhalte, was er nachdrücklich durch sie von Gott erbeten habe.[1] Wilhelm von Tocco kommentiert diesen Bericht mit den Worten: „Daher glaubt man fromm, dass sie [die allerseligste Jungfrau] von ihrem Sohn für den Lehrer [Thomas selbst] die einzigartige Wissenschaft erfleht hat, die er zugleich mit der Lilie der Reinheit erbeten hatte.“[2]

Wenn man sich also fragt: Woher hat der hl. Thomas eine so überragende Weisheit? Dann finden wir hier die Antwort: Er hat die Gottesmutter Maria darum gebeten, und sie hat ihn erhört. Seine Verehrung der Gottesmutter hat in seinen Schriften ihre Spuren hinterlassen. In seinem Hauptwerk, der Theologischen Summe, widmet er ihr sechs Kapitel.[3] Außerdem ist uns ein herrliches kleines Werk von ihm überliefert, in dem er ausschließlich über die Mutter Gottes spricht. Es ist seine Erklärung, des Ave Maria.[4]

Trägt man zusammen, was er über die allerseligste Jungfrau gesagt hat, entsteht ein wunderbares Bild Mariens. Sie übertrifft alle Menschen, sie übertrifft die Engel, sie steht Gott am nächsten.

Maria übertrifft alle Menschen

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Von zwei Heiligen sagt die Heilige Schrift, dass sie von Gott noch im Mutterschoße geheiligt wurden. Beim Propheten Jeremias lesen wir, wie der Herr zu ihm spricht: „Noch ehe du aus dem Mutterschoß kamst, habe ich dich geheiligt.“ (Jer 1,5) Vom hl. Johannes dem Täufer sagt der Engel Gabriel zu Zacharias: „Mit Heiligem Geist wird er erfüllt werden schon vom Schoß seiner Mutter an.“ (Lk 1,15) Von Maria haben wir zwar keine so ausdrückliche Nachricht in der Heiligen Schrift. Und doch kann man mit der Vernunft begründen, dass Sie schon im Schoß ihrer Mutter die Gnade besaß. Denn Maria hatte eine viel größere Aufgabe von Gott empfangen als Jeremias und Johannes der Täufer. Sie sollte den gebären, der der Eingeborene des Vaters ist und voll von Gnade und Wahrheit (vgl. Joh 1,14). Darum sagt Thomas: „Vernünftigerweise hält man für wahr, dass jene, die den Eingeborenen des Vaters voll Gnade und Wahrheit geboren hat, ein größeres Gnadenprivileg erhalten hat als alle anderen. Darum sagt der Engel zu ihr: Gegrüßet seist du Gnadenvolle.“[5]

Aber nicht nur durch ihre Gnadenfülle übertrifft sie alle Menschen. Sie war auch die Vertreterin aller Menschen. Thomas stellt sich die Frage, ob es denn nötig war, dass der Engel Maria zuerst verkündet, dass sie Mutter Gottes werden sollte. Hätte es nicht gereicht, wenn der Heilige Geist einfach über sie gekommen wäre und das Große in ihr gewirkt hätte? Thomas nennt vier Gründe, warum es nötig war, dass der Engel ihr diese Botschaft brachte, bevor Christus in ihr Mensch wurde. Der Verstand ist edler als der Leib, darum musste zuerst ihr Verstand wissen, was dann in ihrem Leib geschehen sollte. Außerdem konnte sie so selbst das Wunder bezeugen, das in ihr vor sich ging, da Gott sie durch den Engel darüber belehrt hatte. Nur wenn sie wusste, dass sie jetzt den Gottessohn empfangen wird, konnte sie freiwillig zustimmen und sich als Magd des Herrn Gott hingeben. Als vierten Grund nennt der heilige Lehrer, dass die Menschwerdung einen besonderen Bund Gottes mit den Menschen darstellt – einer geistigen Ehe ähnlich – und dass er zu diesem Bund auch von Seiten der Menschen das Ja-Wort einholen wollte. Durch die Verkündigung konnte Maria ihre Zustimmung geben und sie tat es nicht als Privatperson, sondern als Vertreterin der ganzen Menschheit.[6]

Noch in einem weiteren Punkt übertraf Maria alle Menschen: Maria war die reinste von allen, denn die Mutter des Gottessohnes musste strahlen mit der größten Reinheit. Sie wäre keine würdige Wohnung des Gottessohnes gewesen, wenn sie nicht ganz rein gewesen wäre nach dem Wort des Psalmes: „Deinem Hause, Herr, gebührt Heiligkeit“ (Ps 92,5).[7]

Maria übertrifft alle Engel

Bildschirmfoto 2024 03 05 um 21.07.39In seiner Erklärung des Ave Maria stellt der heilige Lehrer die Frage: „Wieso grüßt der Engel Maria? Es gehört doch zum guten Ton, dass nicht der Ranghöhere zuerst grüßt, sondern der Niedere. Und die Engel sind offensichtlich viel höher im Rang als die Menschen. Die Engel besitzen eine höhere Würde und übertreffen die Menschen bei weitem.“

Die Engel sind geistige Wesen; sie sind nicht auf einen armseligen Leib angewiesen wie wir Menschen, sie brauchen nicht essen, brauchen nicht schlafen, werden nicht krank. Damit überragen sie uns leibliche und sterbliche Menschen bei weitem an Würde. Die Engel stehen Gott ganz nahe, direkt an seinem Thron, sie sind Gottes Hausgenossen. Wir Menschen dagegen wandeln noch fern vom Herrn, in der Fremde. Die Engel haben alle ein kräftiges Maß Gnade von Gott erhalten, so viel, dass sie von Licht umflossen sind, wenn sie sich zeigen. Wir Menschen dagegen besitzen, verglichen mit den Engeln, nur ein winziges Stückchen Gnade.

Und dennoch steht Maria höher als alle Engel. Die allerseligste Jungfrau übertrifft die Engel in jedem Punkt. Sie überstrahlt die Engel durch ihre Gnadenfülle. Sie war voll der Gnade in ihrer Seele und in ihrem Leib und sie ließ ihre Gnade überströmen auf andere.

In ihrer Seele war sie so voll Gnade, dass sie zum einen nie gesündigt, zum anderen sämtliche Tugenden ausgeübt hat. Sie war ein Muster und ein Vorbild für die Demut, für die Keuschheit und für alle anderen Tugenden. Schon allein durch diese Gnadenfülle in ihrer Seele hat sie die Engel übertroffen. Sie besaß aber nicht nur die Fülle der Gnade in ihrer Seele, sondern sie war so von Gnade erfüllt, dass die Gnade auf ihren Leib überströmte.

Und nicht allein auf ihren Leib strömte die Gnade über, sondern auch auf andere. Es ist schon etwas Großes, wenn ein Engel so viel Gnade besitzt, dass er auch andere heiligen kann. Maria aber besaß so viele Gnaden, dass sie die ganze Welt heiligen kann. So viele, dass sie uns in jeder Gefahr beistehen und uns bei jedem guten Werk helfen kann.

Obwohl die Engel so nahe bei Gott sind und an seinem Thron stehen, übertrifft Maria sie auch in diesem Punkt. Sie hat ein vertrauteres Verhältnis zu Gott als die Engel. Den Engeln ist Gott nahe als ihr Herr. Mit Maria aber ist Gott als ihr Sohn. Gott Vater, der Allerhöchste überschattete sie, der Heilige Geist kam über sie und wirkte in ihr. So nahe ist Gott keinem Engel. Darum sagt der Engel zu ihr: „Der Herr ist mit dir.“

Die Engel haben zwar eine größere Würde als wir Menschen, weil ihre Natur viel edler ist als unsere schwache Menschennatur. Und trotzdem ist die Würde Mariens größer als die der Engel, weil sie die reinste Gottesmutter ist und auch andere rein machen kann.

Maria war Gott am nächsten

Kein Mensch und kein Engel hatte mehr Gnade als Maria, sie besaß die Fülle aller Gnaden. Der gelehrte Heilige begründet das mit einer einfachen Überlegung: Je näher man einer Quelle steht, desto mehr spürt man ihren Einfluss. Je näher einer dem Feuer steht, desto mehr spürt er seine Wärme. Das gilt auch von der Gnade. Je näher ein Engel Gott ist, desto mehr nimmt er am Gutsein Gottes teil. Christus aber ist die Quelle der Gnade. Als Gottessohn schafft er die Gnade, als Mensch ist er Werkzeug der Gnade. Dieser Gnadenquelle war niemand näher als Maria. Christi Menschheit lebte in ihrem Schoß. Darum musste sie von Christus viel mehr Gnaden erhalten als alle anderen.[8]

Wo Thomas über die Allmacht Gottes spricht, fragt er sich: „Kann Gott Besseres machen, als das, was er gemacht hat?“[9] Thomas zählt dann drei Dinge auf, die Gott trotz seiner Allmacht nicht hätte besser machen können: die Menschheit Christi, die Anschauung Gottes im Himmel und die allerseligste Jungfrau Maria. Die Menschheit Christi kann nicht besser sein, weil sie mit dem Gottessohn verbunden ist. Die Seligkeit im Himmel kann nicht größer sein, weil sie Genuss Gottes ist. Die allerseligste Jungfrau Maria kann nicht größer sein, weil sie Mutter Gottes ist und deshalb eine unendliche Würde hat.

Die Marienfrömmigkeit des hl. Thomas

Bildschirmfoto 2024 03 05 um 21.08.04Der heilige Lehrer sagt und schreibt also ganz Großes über die allerseligste Jungfrau. Wenn er sie so hochschätzt, dann hat er sie auch über alles geliebt. Er selbst formuliert den Grundsatz, dass unser Wohlwollen einem anderen gegenüber umso größer ist, je besser der andere in unseren Augen ist.[10] Die Gottesmutter war in den Augen des heiligen Thomas das allergrößte Geschöpf. Darum hat er sie auch mehr geliebt als alle.

In seinem Ordensleben mit den Gelübden der Armut, der Keuschheit und des Gehorsams darf man eine Nachahmung Mariens sehen. Zwischen der Keuschheit Mariens und dem Gelübde der Keuschheit stellt er selbst eine Verbindung her. Für Thomas steht fest, dass ein Werk, das Gott durch ein Gelübde geweiht wurde, wertvoller ist als dasselbe Werk ohne Gelübde. Die Jungfräulichkeit Mariens musste aber die allerbeste Jungfräulichkeit sein, die man sich nur denken kann. Also – so schließt der heilige Lehrer – muss Maria ein Jungfräulichkeitsgelübde abgelegt haben, sonst wäre ihre Jungfräulichkeit nicht die beste gewesen.[11]

Als der hl. Thomas am 7. März 1274 starb hat ihn sicherlich die Mutter im Himmel begrüßt, von der er seine Wissenschaft und seine Reinheit erfleht und die ihn erhört hatte.

 

Autor: Pater Gerd Heumesser

Quelle: erschienen im „Ritter“, Zeitschrift der Militia Immaculatae, Nr. 1/2024

[1]Wilhelm von Tocco: Das Leben des hl. Thomas von Auqino, Kap. 32, zit. nach Nigg/Schamoni: Heilige der ungeteilten Christenheit, Düsseldorf 1965, S.129.

[2]Ebd.

[3]III.25-30.

[4]Opuscula 8 Expositio salutationis anglicae, deutsch in A. Portmann/ X. Kunz (Hrsg.): Katechismus des heiligen Thomas von Aquin, Kirchen/Sieg 1971, S. 150-159.

[5]I.27.1.

[6]III.30.1.

[7]I.II.81.5ad 3.

[8]III.27.5.

[9]I.25.6.ad4.

[10]III.86.2.

[11]III.28.4.

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