Der bekannte Bischof Fulton John Sheen schrieb ein Buch über die sieben letzten Worte Jesu. Für uns Kinder Mariens ist das dritte Wort „Frau, siehe da, dein Sohn!“ elementar. Gerne geben wir hier Auszüge aus dem Buch wieder, insbesondere die Betrachtung über dieses letzte Wort Jesu am Kreuze.
Es scheint eine psychologische Tatsache zu sein, dass das menschliche Herz, wenn der Tod naht, Worte der Liebe zu denen spricht, die ihm am nächsten stehen und die es am liebsten hat. Es gibt keinen Grund zu vermuten, dass es im Fall des Herzens der Herzen anders ist. Wenn Jesus in einer abgestuften Reihenfolge zu denen sprach, die er am meisten liebte, dann können wir erwarten, in seinen ersten drei Äußerungen die Reihenfolge seiner Liebe und Zuneigung zu erkennen. Sein erstes der letzten sieben Worte ging an die Feinde: „Vater, vergib ihnen“; sein zweites an die Sünder: „Heute wirst du mit mir im Paradies sein“; und sein drittes an die Heiligen: „Frau, siehe da, dein Sohn.“ Feinde, Sünder und Heilige – das ist die Reihenfolge der göttlichen Liebe und Fürsorge.
Das dritte Wort: „Frau, siehe da, dein Sohn!“
Ein Engel des Lichts ging vom großen weißen Thron des Lichts aus und stieg über die Ebenen von Esdraelon herab, vorbei an den Töchtern der großen Königtümer und Reiche, und kam dorthin, wo eine demütige Jungfrau von Nazareth im Gebet kniete. Er sagte: „Gegrüßt seist du, Maria, voll der Gnade!“ Dies waren keine Worte; es war DAS Wort. „Und das Wort wurde Fleisch.“ Das war die erste Verkündigung.
Neun Monate vergingen, und noch einmal kam ein Engel von jenem großen weißen Thron des Lichts. Er kam zu Hirten auf den judäischen Hügeln herab, lehrte sie die Freude des „Gloria in excelsis“ und forderte sie auf, den anzubeten, den die Welt nicht fassen konnte, ein „Kind, in Windeln gewickelt und in eine Krippe liegend“. Die Ewigkeit wurde Zeit, die Gottheit inkarniert, Gott nahm menschliche Natur an; die Allmacht wurde in Fesseln entdeckt. In der Sprache des heiligen Lukas brachte Maria „ihren erstgeborenen Sohn zur Welt … und legte ihn in eine Krippe“. Das war die erste Geburt. Dann kamen Nazareth und die Zimmermannswerkstatt. Hier kann man sich den göttlichen Knaben vorstellen, wie er ein kleines Kreuz zimmerte, in Erwartung des großen Kreuzes, das eines Tages auf dem Kalvarienberg sein würde, wo er einmal sein Blut vergießen wird. Man kann sich auch vorstellen, wie er am Abend eines Arbeitstages an der Werkbank seine Arme in erschöpfter Entspannung ausstreckt, während die untergehende Sonne auf der gegenüberliegenden Wand den Schatten eines Mannes am Kreuz nachzeichnet. Man kann auch ahnen, dass seine Mutter in jedem Nagel die Prophezeiung und das Vorzeichen jenes Tages sah, an dem Menschen den Einen, der das Universum gezimmert hat, an ein Kreuz zimmern würden. Nazareth ging in Kalvaria über, und die Nägel der Zimmerei in die Nägel der menschlichen Bösartigkeit. Vom Kreuz aus vollendete er seinen letzten Willen und sein Testament. Er hatte bereits sein Blut der Kirche übergeben, seine Kleider seinen Feinden, einen Dieb dem Paradies, und würde bald seinen Leib dem Grab und seine Seele seinem himmlischen Vater empfehlen. Wem konnte er dann die beiden Schätze geben, die er über alles liebte, Maria und Johannes? Er würde sie einander vermachen, indem er seiner Mutter einen Sohn und seinem Freund eine Mutter gab. „Frau, …!“ Es war die zweite Verkündigung! Die Mitternachtsstunde, das stille Zimmer, das ekstatische Gebet [der Verkündigung] waren dem Berg von Kalvaria gewichen, dem verdunkelten Himmel und einem Sohn, der am Kreuz hing. Und doch, welch ein Trost! Die erste Verkündigung kam nur durch einen Engel, aber es war Gottes eigene süße Stimme, die die zweite Verkündigung aussprach: „Siehe, dein Sohn!“ Es war die zweite Geburtsstunde! Maria hatte ihren Erstgeborenen ohne Mühen in der Grotte zu Bethlehem zur Welt gebracht; jetzt bringt sie ihren Zweitgeborenen, Johannes, unter den Mühen des Kreuzes zur Welt. In diesem Augenblick macht Maria die Geburtswehen durch, nicht nur für ihren Zweitgeborenen, der Johannes ist, sondern auch für die Millionen, die ihr in den christlichen Zeitaltern als „Kinder Mariens“ geboren werden. Jetzt können wir verstehen, warum Christus „ihr Erstgeborener“ genannt wurde. Es war nicht, weil sie andere Kinder durch das Blut des Fleisches haben sollte, sondern weil sie andere Kinder durch das Blut ihres Herzens haben sollte. Wahrlich, die göttliche Verurteilung Evas wird jetzt erneuert gegenüber der neuen Eva, nämlich Maria, denn sie bringt ihre Kinder unter Schmerzen hervor.
Maria ist also nicht nur die Mutter unseres Herrn und Erlösers, Jesus Christus, sondern sie ist auch unsere Mutter, und das nicht durch einen Höflichkeitstitel, nicht durch eine juristische Fiktion, nicht durch eine bloße Redensart, sondern durch das Recht, uns am Fuße des Kreuzes mit Schmerzen geboren zu haben. Eva verlor den Titel Mutter der Lebenden durch Schwäche und Ungehorsam am Fuß des Baumes des Guten und des Bösen; am Fuß des Baumes des Kreuzes gewann Maria durch Opfer und Gehorsam den Titel Mutter der Lebenden für uns zurück. Was für ein Schicksal, die Mutter Gottes als meine Mutter und Jesus als meinen Bruder zu haben!
Gebet: O Maria! So wie Jesus aus dir bei deiner ersten Geburt im Fleisch geboren wurde, so sind wir aus dir bei deiner zweiten Geburt im Geist geboren worden. So hast du uns geboren und uns in eine neue Welt der geistigen Beziehung mit Gott als unserem Vater, Jesus als unserem Bruder und dir als unserer ureigenen Mutter gebracht! Wenn schon eine Mutter das Kind aus ihrem Schoß nie vergessen kann, dann, Maria, wirst du uns, die wir dein eigen sind, auch nie vergessen. So wie du Miterlöserin beim Erlangen der Gnaden des ewigen Lebens warst, so sei auch unsere Mittlerin bei ihrer Austeilung. Nichts ist für dich unmöglich, denn du bist die Mutter dessen, der alles vermag. Wenn dein Sohn deine Bitte beim Festmahl von Kana nicht abgewiesen hat, so wird er sie auch beim himmlischen Festmahl nicht abweisen, an dem du als Königin der Engel und Heiligen gekrönt wirst. Lege deshalb bei deinem göttlichen Sohn Fürsprache ein, damit er das Wasser meiner Schwäche in den Wein deiner Stärke verwandelt. Maria, du bist die Zuflucht der Sünder! Bitte für uns, die wir uns jetzt am Fuße des Kreuzes niederwerfen. Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes. Amen.
Quelle: Sheen, Fulton J. The Seven Last Words (S. 10, S.18-20). ST PAULS. Kindle-Version. Übersetzt von der Militia Immaculatae.