von Pater Stehlin
O Immaculata, du Demütigste!
Liebe Ritter der Immaculata!
Da in diesem Jahr der Karfreitag auf den 25. März fällt, will die göttliche Vorsehung unsere Aufmerksamkeit gleichzeitig auf die zwei größten Geheimnisse unseres Glaubens lenken, um uns durch deren Betrachtung zu heiligen!
Was haben die beiden Geheimnisse der Menschwerdung und der Passion unseres Herrn gemeinsam?
Die Demut!
Bei beiden Geheimnissen wohnen wir einem totalen Höhepunkt der Demütigung bei: Am 25. März (bei der Verkündigung) wird Gott Mensch und vernichtet sich selbst sozusagen bis zum Nichts; die Muttergottes, die Königin des Himmels und der Erde, betrachtet sich selbst nur als die niedrigste Magd des Herrn.
Am Karfreitag sind beide, Sohn und Mutter, vernichtet, in der tiefsten Schmach, niederträchtig behandelt, „ein Wurm und kein Mensch“, abgelehnt von der Menschheit, Aussätzige…
Alles was wir tun müssen, ist die Immaculata in ihrer Demut nachzuahmen. Weshalb wurde sie die größte der Heiligen? Wegen ihrer Demut! Durch ihre Demut wandte sich die allerseligste Jungfrau Maria radikal von sich selbst ab, entäußerte sich selbst von allem was nicht Gott ist. Ihre Seele ist arm, völlig frei von irgendetwas „Eigenem“. Sie ist wie ein kostbarer goldener Kelch. Um mit einer kostbaren Flüssigkeit gefüllt zu werden, muss er leer sein, frei vom kleinsten Staubkorn. Die kostbare Flüssigkeit muss ihre Frische bewahren, ohne mit irgendetwas vermischt zu werden.
Das Leben Mariens ist ein kontinuierlicher Strang von Akten der Demut, der Demütigung. Ihr Leben ist ein unerschütterlicher Zustand der demütigsten Seele. Man muss im Vorhinein anmerken, dass es einen bedeutenden Unterschied gibt zwischen ihrer Demut und der Demut aller anderen Menschen. Letztere sehen zuerst ihren erbärmlichen Zustand, verursacht durch die Erbsünde und durch viele persönliche Sünden. Die demütigende Sicht auf den zerstörten Palast in ihrer Seele ist die Hauptquelle ihrer Demut.
Die Demut Mariens stützt sich nicht auf das Bewusstsein der Sündhaftigkeit, denn Maria beging nie die kleinste Sünde. Die Demut Mariens ist die Demut der Liebe, die Demut eines Freundes, der die Freundschaft Gottes empfangen hat, wissend, dass diese Freundschaft völlig uneigennützig ist, ein reines Geschenk, eine gänzlich unverdiente Gnade. Die geliebte Braut, wissend um die Größe des ihr verliehenen Geschenks, antwortet darauf mit einem Akt der totalen Hingabe und Selbstverleugnung.
Diese einzigartig demütige Seele ist so entzückt von der Schönheit Gottes, so versunken in seine Herrlichkeit, in seine unendliche Vollkommenheit, dass sie ihn nur noch loben und preisen will für alles, was er ihr freigebig geschenkt hat. Je mehr Maria in der Erkenntnis Gottes und seiner Gaben wächst, umso größer wird ihre Demut. Und sie singt in ihrem Lobgesang „Magnifikat“: „Denn er ist mächtig, Großes hat er an mir getan und heilig ist sein Name.“
Daher geschieht in Mariens Leben das Gegenteil von dem, was in unserem Leben geschieht. Je mehr wir unsere Tugenden und Talente entdecken, umso mehr entfalten wir sie und umso grösser ist die Gefahr, dass wir alles uns zuschreiben und Gefallen an uns selbst finden. Vor Publikum anzugeben, um andere damit zu entzücken, um die Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen, um gelobt zu werden – dies alles sind klassische Beispiele des Stolzes in unserem Leben.
Maria war sich der Schätze in ihrer Seele bewusst, besann sich aber auf den, der sie ihr geschenkt hat. Wir jedoch schreiben unsere Talente, Stärken und Tugenden einzig uns selbst zu. Gott als der Schenker verschwindet aus unserem Blick. Wir vergessen die weisen Worte der hl. Teresia von Avila: „Demut besteht nicht in der Nichtbeachtung der Gaben Gottes, sondern in der Erkenntnis woher sie kommen.“
Betrachten wir einzelne Ereignisse im Leben Mariens, so erkennen wir verschiedene Eigenschaften und Ausdrucksweisen der Demut. Vor allem in diesem Punkt lohnt es sich, uns selbst Fragen zu stellen, die während der Betrachtung der Geheimnisse Mariens aufkommen sollten, nämlich: Leben wir in diesen tiefen Wahrheiten? Wie ahmen wir sie, die uns als das großartigste und unfehlbare Vorbild gegeben wurde, nach?
Zuerst (nach ihrer Unbefleckten Empfängnis und Geburt) sehen wir Maria als kleines Kind im Tempel von Jerusalem. Viele Kirchenväter und Theologen beschreiben, dass sie die eingegossene Weisheit (scientia infusa) empfangen hat, und ihr so Gott vom ersten Moment ihrer Existenz an das spezielle Privileg einer allumfassenden Weisheit gewährt hat. Daher kannte sie nicht nur die heiligen Schriften perfekt, sondern auch deren tiefste Bedeutung.
Doch sie verbarg dieses Wissen mehrere Jahre lang vor den Menschen und unterwarf sich geduldig den Tempelvorstehern, die sie unterrichteten und aufzogen. Sie hörte geduldig den Tempelpriestern zu, die ihr Lektionen in der jüdischen Gesetzeslehre erteilten. Sie hörte auch die Lehren der Schriftgelehrten, die unser Herr später beschuldigte, den Geist zu töten und den Buchstaben zu behalten.
Hier ein Beispiel: „Um welche Zeit soll man das Morgengebet verrichten? In der Dämmerung, wenn das Licht beginnt das Blau der Nacht zu durchbrechen. Aber welches Blau? Bergblau oder Himmelblau? Außerdem, mit welchem Blick? Mäßig oder durchdringend?“ Die Schüler mussten alle Interpretationen kennen und wissen, dass ein Lehrer so und ein anderer anders lehrt!
Also hatte Maria alles Recht dazu, gelangweilt und kritisch zu sein gegenüber dem, was sie lernte. Aber sie unterwarf sich weiterhin den Tempelvorstehern. Dieser Aspekt der Demut ist die Gelehrigkeit, die Unterwerfung (docilitas). Sicherlich lernte sie in dieser Zeit einige bedeutende und große Dinge, die sie zu noch größerer Nächstenliebe anleiteten. Das Gegenteil geschieht mit uns. Wenn wir uns einmal einige theologische Kenntnisse angeeignet haben und diese von jemandem wiederholt bekommen, sind wir schnell dabei uns gelangweilt zu zeigen. Wenn es uns scheint, dass wir mehr als andere wissen, steigt ein stolzes Gefühl der Überlegenheit in uns auf, und wir lieben es, den anderen unsere Verachtung zu zeigen. Und doch könnten wir von solchen Situationen profitieren, denn wenn nur 10% von dem Wissen neu für uns ist, oder wenn wir eine andere Sicht auf das uns bekannte Thema erhalten, können wir dadurch näher zu Gott gelangen.
Außerdem sind die Geheimnisse Gottes unermesslich und für einen Akt der demütigen Gelehrsamkeit gewährt er oft einen tieferen Einblick, als man sich während Jahren seriösen Studiums selbst aneignen kann. Durch göttliche Eingebung angeleitet, weihte sich Maria Gott und legte das Gelübde der Keuschheit ab, dessen Fest wir im liturgischen Kalender als das Fest der Darstellung der Allerseligsten Jungfrau Maria kennen.
Die Tempelvorsteher hatten eine sehr negative Haltung gegenüber der Jungfräulichkeit und betrachteten kinderlose Frauen als von Gott verflucht. Deshalb kannten sie keinen anderen annehmbaren Lebensstand für eine Frau als den Ehestand. Zu jener Zeit entschieden die Eltern über die Hochzeit ihrer Kinder und wenn ein Kind für den Tempeldienst bestimmt wurde, übernahmen die Tempelvorsteher dessen elterliche Verantwortung. Kein Mädchen wurde zu dieser Zeit gefragt, wen es heiraten wollte. Man suchte einfach einen Ehemann für sie aus. So taten sie es auch mit Maria, sie wählten Joseph aus dem Hause David.
Es ist leicht zu sehen, wie viel Demut es sie kostete, sich nicht gegen diese Leute aufzulehnen, die nichts von ihrem Seelenzustand verstanden; wie viel Geduld und Vertrauen sie aufbrachte, um nicht von Furcht überwältigt zu werden vor der Reaktion Josefs, wenn er ihre Absicht, Jungfrau zu bleiben, erfahren würde. In solchen Situationen lehnten sich Mädchen normalerweise im Herzen auf, beklagten und beschwerten sich und murrten gegen Gott.
Maria verblieb im Zustand demütigen Vertrauens. Das blinde Vertrauen in die göttliche Vorsehung ist Ausdruck einer außergewöhnlichen Demut. Wenn wir keine Lösung für ein Problem finden, wenn alles auf eine Katastrophe hinausläuft, wenn alles verloren scheint, wenn wir unsere eigenen Mittel erschöpft haben und unsere Hilflosigkeit erfahren, dann sollten wir alles ohne Verwirrung oder Angst, sogar ohne Neugierde Gott anvertrauen und geduldig warten – das ist der Gipfel der Demut. Ein Mensch, der demütig ist und sich seiner Not und seines Nichts bewusst ist, versucht alles, um Gottes Willen zu erfüllen, erwartet aber alles von Gott, der immer und überall alles auf seine Weise gibt.
Der wichtigste Augenblick und die größte Manifestation der Demut war die Verkündigung. In diesem Moment war alles Demut und Demut allein. Der große Engel Gabriel (der Name bedeutet “Gott mit uns”) verbeugte sich tief vor dem Mädchen – in höchster Demut. Dann offenbarte sich die Demut Mariens – und zuletzt, der Gipfel der Demut: Gottes Menschwerdung.
Was ging in Maria vor in diesem entscheidenden Moment? Wir wissen, dass sie innigst über das Wesen Gottes, seine Majestät und Herrlichkeit betrachtete. Sie bewunderte die Wahrheit, dass er der unumschränkte Herr aller Dinge ist. Doch als der Engel vor ihr stand, war sie tief bewegt. Sie war ähnlich bewegt, als sie den Gruß des Engels vernahm. Niemand hat je solche Worte gehört! Sie verstand genau was “gratia plena, Dominus tecum, benedicta inter mulieres” bedeutete. “Als sie diese Worte vernahm, erschrak sie darüber” – sie konnte also keinen Grund für eine solche Ehre erkennen und konnte nicht verstehen, weshalb sie, die kleinste unter den Menschen, so ein Geschenk erhalten sollte. Der Engel sprach und es wurde klar, dass sie die größte Ehre, das größte Geschenk erhalten sollte, welches Gott seiner Kreatur verleihen konnte. Sie wurde die Mutter Gottes und wurde hineingenommen in das innerste Leben der heiligsten Dreifaltigkeit. Welches war ihre Antwort dazu? Dies sind die ersten Worte, die sie sprach: “Wie soll das geschehen, da ich keinen Mann erkenne?” Das ist ihre einzige Sorge: Gottes Willen zu erfüllen. Sie verstand im Voraus dass Gottes Wille darin besteht, dass sie sich ihm ganz weiht in heiliger Jungfräulichkeit.
Und Gott bestätigte ihre Jungfräulichkeit feierlich dadurch, dass er ihr den hl. Josef als Ehemann gab. Dieser Mann respektierte nicht nur ihr Gelübde der Jungfräulichkeit, sondern hatte genau dieselben Ideale. Durch das Geschenk der Jungfräulichkeit konnte sie sich ganz Gott hingeben und sich selbst grenzenlos öffnen für seine Barmherzigkeit. Und nun sollte sie die Mutter des Messias werden. Da in der natürlichen Ordnung Jungfräulichkeit und Mutterschaft nicht gleichzeitig bestehen können, bat sie den Engel um eine Erklärung. Und der Engel erklärte das große Wunder, das 700 Jahre vorher vom Propheten Isaias vorhergesagt wurde: “Seht, eine Jungfrau wird empfangen!” Angesichts der Schlussfolgerung, dass für Gott nichts unmöglich ist, sprach Maria ihr „Fiat“ und gab so ihre Zustimmung.
Sogar eine sehr heiligmässige Person könnte unter solchen Umständen ein ganz klein wenig Befriedigung darin finden, dass Gott sie ausgewählt hat. Es wäre einfach zu denken: “Wie großartig, so geehrt zu werden, wieviel Gutes werde ich nun den anderen tun können, wie freundlich von Gott, dass er mich so ehrt.” Es ist schwierig, in solch einem Moment nicht den kleinsten Gefallen an sich selbst zu finden. Und sie? Obwohl sie gebenedeit ist unter allen Kreaturen und ausgewählt wurde zur größten Ehre, die einem menschlichen Wesen zuteilwerden kann, wusste sie genau, dass alles ein Geschenk Gottes war. Der Allerhöchste, getrieben von seiner Barmherzigkeit, schaute auf die Demut seiner Magd, die trotz ihrer großartigen Sendung nichts sich selbst zuschrieb. Sie war durch einen Schöpfungsakt Gottes hervorgebracht aus dem Nichts. Sie hatte nichts aus sich selber. Alles was schön ist an ihr – und wir wissen, dass alles an ihr schön ist – wurde ihr von Gott gegeben. Diese beiden Unendlichkeiten betrachtend – die unendliche Majestät Gottes und die Unendlichkeit ihres eigenen Nichts – brachten Maria zur logischen Schlussfolgerung: “Du bist alles, ich bin nichts. Du bist alles in mir. Mir geschehe, wie Du gesagt hast. Siehe, Deine Magd!” Wir wissen, dass diese totale Hingabe die Ozeane der göttlichen Liebe dazu bewegten, sich auszugießen, um der verlorenen Welt Erlösung zu bringen.
Dreimal am Tag erinnern wir uns an dieses Geheimnis im Angelus Gebet. Die Zahl Drei steht für Fülle, Gänze, Unwandelbarkeit und Dauer. Das dreifach wiederholte Gebet bedeutet, dass wir während des Tages ständig die Demut Mariens nachahmen sollen. Dabei geht es der Kirche nicht nur um die Wichtigkeit der Verkündigung für die Erlösung der Welt, sondern auch um die Wichtigkeit der Tugend der Demut. In diesem Ereignis wird uns die Demut in ihrem tiefsten Wesen gezeigt, im totalen Verzicht auf sich selbst und in der totalen Hingabe an Gott – der Hinwendung zu ihm. Wie vielsagend ist Mariens Antwort: “Ecce ancilla Domini.” Das Personalpronomen “ich” fehlt in dieser Äußerung. Wir sehen nur ein Wort, mit welchem die menschliche Sprache die größtmögliche Gefälligkeit ausdrücken kann, nämlich „Ancilla“ – eine Magd, eine Sklavin! Sie war immer die Demütigste und betrachtete sich selbst vor Gott als Nichts.
Bei der Verkündigung wurde ihre Demut geprüft und der härtesten Probe unterzogen. Maria erhielt eine Botschaft, die sie nicht nur über alle Menschen erhob, sondern sogar, was die Würde betrifft, über alle Engel des Himmels: die Königin des Himmels und der Erde, die Höchste, die Herrlichste, die Mächtigste, abgesehen von Gott selbst. Tatsächlich, es kann einem schwindelig werden, wenn man so eine Botschaft hört, während Maria, obwohl so unermesslich erhoben, den inneren Frieden bewahrte und noch weiter wuchs in stiller Anbetung Gottes, der allein heilig und herrlich ist, aus sich selbst und in ihr.
Ihre Demut tat sich unmittelbar nach der Verkündigung kund. Sie eilte zum Hause von Zacharias und Elisabeth, um den Haushalt zu machen und ihrer Cousine zu helfen.
Sie suchte die Gesellschaft demütiger, ja sogar gedemütigter Seelen. Nur unter solchen Leuten fühlte sie sich wohl. Zacharias und Elisabeth gehörten zu den wenigen demütigen Seelen, die, im Gegensatz zu den stolzen Pharisäern, ihre Rechtfertigung in den Vorschriften des Gesetzes suchten, auf Hilfe und Erlösung des erbarmenden Gottes warteten, im Glauben und Vertrauen auf seine Versprechen. Zudem wurden sie gedemütigt durch die öffentliche Meinung. Wegen ihrer kinderlosen Ehe wurden sie als bestraft und sogar von Gott verflucht angesehen. Die Gesellschaft glaubte, dass es ein handfester Beweis dieses Fluches sei, dass Zacharias von einem Moment auf den andern stumm geworden war; er hatte seinen Gottesdienst stumm beendet. Viele glaubten, dass es Gottes Strafe war für seine versteckten Sünden. Deshalb verachteten sie ihn. Er aber brachte keine Entschuldigung oder Erklärung vor, weder schriftlich noch in Zeichensprache.
Das ist ein weiteres großes Zeichen der Demut. Da wir alle nichts sind vor Gott, liebt eine demütige Seele diejenigen, die diese Wahrheit anerkennen. Und da auf dieser Welt Demut immer Demütigung mit sich bringt, fühlt sich eine demütige Seele zu den Gedemütigten hingezogen, vor allem zu jenen, die die Demütigung mit Ergebung aus der Hand Gottes annehmen. In diesem Zusammenhang sollte man verstehen, dass es gerade während ihres Besuches bei Zacharias und Elisabeth geschah, dass Maria ihr Herz öffnete und in den Lobgesang des Magnifikat ausbrach.
Ein weiterer Aspekt der Demut ist die Besinnung auf das Wichtigste, nämlich das göttliche Erbarmen, die Herrlichkeit des Herzens Gottes, welches sich so sehr danach sehnt, unser Nichts zu erfüllen. Aber Gott will dies nur an demütigen Seelen vollbringen. Das Magnifikat ist ein mehrfach zusammengesetztes Gebet, das den Zustand einer demütigen Seele vermittelt, die nicht anders kann, als ständig neue Wege zu suchen, Gott zu preisen, der allein allmächtig ist.
Ein weiterer Aspekt der Demut ist das Leiden. Der eigentliche Akt der Demut (welcher eine Seelenverfassung Gott gegenüber ist) führt oft zum Leiden im Hinblick auf die anderen Geschöpfe. Wenn sich die demütige Seele der Größe des Herzens Gottes gegenüber öffnet, gibt ihr Gott einen Anteil an seinen unendlichen Geheimnissen. Und da sie unendlich sind, kann, bzw. darf die Seele anderen manchmal nicht erzählen, was in ihrem Herzen vorgeht. Sogar ihre engsten Freunde verstehen sie nicht mehr. Sie leiden darunter und auch die Seele selber leidet. Sie fühlen sich missverstanden, vielleicht sogar abgelehnt und ziehen sich zurück und so verblassen tiefe Freundschaften.
In diesem Sinne muss das Leiden des hl. Josef verstanden werden, als er gewahr wurde, dass Maria empfangen hatte. Er sah keine andere Möglichkeit, als die geliebte Person zu verlassen, sich zurückzuziehen, aus der Umgebung seiner am meisten geliebten Person zu verschwinden. Die Bereitschaft zu verschwinden war ein Akt der Anerkennung seines Nichts. Solch eine Bereitschaft war auch ein Akt der Demut gegenüber den geheimnisvollen Fügungen Gottes, deren Majestät den hl. Josef überwältigte.
Aber Gott belohnt jeden Akt der Demut. Wenn nötig sogar durch ein Wunder! Und demütige Seelen vertrauen nicht nur in ihren Freuden auf Gott, sondern auch in ihren Leiden. Schließlich ist Demut in der Welt praktisch immer mit Demütigungen verbunden. Bei uns gefallenen Naturen ist es unmöglich, die Tugend der Demut ohne Demütigungen zu erwerben. Obwohl Maria in einer anderen Situation war, da sie vom Makel der Erbsünde bewahrt worden war, nahm sie freiwillig die Demütigungen an, unendlich größere und zahlreichere als unsere, um uns in dieser Hinsicht ein Beispiel der Demut zu geben. Nur geprüfte Demut ist echt. Von dem Moment an, als die Worte “es ist kein Platz für euch” in Bethlehem gesprochen wurden, nahm Maria an den Demütigungen ihres Sohnes teil. Er erlitt sie an seinem Leib, während sie sie in ihrem Herzen bewahrte: die Demütigung, den Sohn Gottes in einer derben Höhle auf die Welt zu bringen, die Demütigung Flüchtlinge zu sein, die Demütigung der unbeschreiblichen Verbannung in Ägypten, die Demütigung der Armut in Nazareth (deren sprechendes Zeugnis das Haus von Loreto ist), zahlreiche Demütigungen während der öffentlichen Wirksamkeit Jesu Christi, als sie selbst die wachsende Feindschaft der bösen Menschen gegenüber ihrem Sohn wahrnahm.
Dies alles führte zum Höhepunkt der Demut, als Christus in die totale physische Vernichtung ging. In diesem Moment stand Maria geistig vernichtet unter dem Kreuz, und sie stand dort unbewegt. Sie zeigte eine Demut, die nicht zurückschreckte, nicht schwankte, nicht zögerte, sich nicht beklagte und nicht aufbegehrte, während sie der härtesten Prüfung unterzogen wurde! Mehr als das, es war die Demut einer Person, die völlig darauf verzichtete, ihre edlen Charakterzüge zur Schau zu stellen.
Maria, die nur für ihren Sohn lebte, erhielt an seiner Stelle uns als ihre Kinder! Anstelle des Heiligsten erhielt sie Sünder, anstelle von göttlicher Liebe erhielt sie unsere Kälte und Unbeständigkeit, anstelle von Schönheit – Ungeheuerlichkeit. Und sie akzeptierte Gottes Willen voll und ganz! Das ist der Gipfel der Demut!
Mögen diese Überlegungen uns helfen, vor allem in dieser heiligen Fastenzeit, in das demütige, schmerzhafte Herz der Immaculata einzutreten und sie um Hilfe zu bitten, damit unser Herz ebenso demütig wird! Dann werden die Gnaden reichlich aus dem durchbohrten Herzen fließen und uns erfüllen, heiligen und umwandeln!
General Santos, 14. Februar 2016
Pater Stehlin