„Stopp! Bis hierher und nicht weiter!“

„Stopp! Bis hierher und nicht weiter!“

Das Verschonungs-Wunder von Tirol

Ex 14:19-22, Jes 54:10

Oberperfuss, Sellraintal in Tirol, zweite Hälfte der 1950er Jahre.

Ein kleines Mädchen wird nach einem etwas unglücklichen, weil von der Teenager-Mutter eigentlich weder geplanten noch erwünschten Start ins Leben in eine Pflegefamilie eingewiesen. Es sind hart arbeitende Bauersleute.

Als die Kleine 11 Jahre alt ist, stirbt die Ziehmutter. Zwar darf sie beim Ziehvater und dessen leiblicher Tochter bleiben, aber sie „wurschtelt sich ab diesem Zeitpunkt so durch“, sagt sie heute. „Und ich hatte halt keine Führung“.

Eine Lehrerin nimmt sie ein bisschen unter ihre Fittiche. Sie vermittelt ihr nach der Schule eine Lehr- bzw. Arbeitsstelle. Die Chefin ist freundlich zu dem jungen „Madl“. Als Angelika 15 Jahre alt ist, verliebt sie sich in ihren heutigen Mann. Er heißt Max und ist 16. 1975 zieht die junge Frau zu ihrem zukünftigen Mann in dessen kleines, gemütliches Elternhaus. Da wohnen auch noch die Eltern und die Oma des jungen Mannes.

Das Holzhaus liegt zusammen mit zwei anderen Häusern auf halbem Wege zwischen zwei Dörfern im Sellraintal – und zwischen der Straße einerseits sowie einem Gebirgsbach namens Melach andererseits.

Ihr Bachbett verläuft nur wenige Meter entfernt sowie etwas unterhalb von einem ca. 2 m breiten Rasenstreifen, dann folgt ein Maschendrahtzaun, der das Grundstück begrenzt. Jenseits der Melach erhebt sich ein grasbewachsener Hang, der höher oben in einen Bergwald übergeht.

Die Melach. Als die Verfasserin dieser Zeilen sie im Oktober 2017 sah, gurgelte sie fröhlich zwischen verschiedenfarbigen Steinbrocken und grasbewachsenen Sandbänken, auf denen zart verblühende Distelstauden sanft im Winde schaukelten, zu Tal. Die munter hüpfenden kleinen Wellen glänzten silbern gegen die milde Herbstsonne. Postkartenidylle.

Als Angelikas Chefin ihren Schützling 1975 zum ersten Mal besucht, bringt sie ein kleines Säckchen mit. Was ist darin? Etwa 10 bis 15 von gesalbter Priesterhand geweihte „Wunderbare Medaillen“ aus einem Marien-Wallfahrtsort bei Innsbruck[1]. So viele?! Warum? „Madl“, sagt die Chefin, „dieser Bach da ist gefährlich! Vergrab‘ die Medaillen am Zaun von eurem Grundstück, dann wird die Muttergottes euch schützen.“ Hm. Angelika tut brav, was man sie geheißen hat, alle anderthalb Meter eine Medaille. Und vergisst die ganze Sache mehr oder weniger postwendend.

Die Jahre gehen ins Land. Angelika heiratet ihren Max, zwei Töchter werden ihnen geschenkt, die alten Leute sterben nach und nach, die Mädchen wachsen heran, heiraten ihrerseits und gehen aus dem Haus, Enkelkinder werden geboren….

7. Juni 2015. Ein schöner Sommer-Sonntag. Die Menschen im Sellraintal gehen zum Wandern, zum Radeln, sie treffen sich mit Freunden, Kindern und Enkeln zu gemütlichem Plausch. Keiner ahnt, dass sich über ihren Köpfen eine Katastrophe schier apokalyptischen Ausmaßes zusammenbraut.

Um 19 Uhr, so sagen es hinterher die Meteorologen, bildet sich eine gewaltige Gewitterfront im Bereich Gries im Sellrain. Sie zieht nach Osten. Fein… Aber dann dreht sie sich! Und bleibt geschlagene vier Stunden über dem Tal hängen. Die Wissenschaftler sprechen von einem „300-Jahre-Ereignis“. Es schüttet wie aus Kübeln, es hagelt. Alte Leute berichten aus langer Lebenserfahrung: „Wenn es erstmal regnet, dann hagelt es nicht mehr.“ In dieser Nacht sind die Naturgesetze offensichtlich komplett außer Kraft. „Es kracht und donnert, es rauscht und brüllt, die Hänge ringsum beginnen zu rutschen.“[2]

Der Herr Bürgermeister, ein offenbar tapferer, erfahrener Mann[3], telefoniert mit dem Landesfeuerwehr-Inspektor, um in Erfahrung zu bringen, was eigentlich los sei. Die lakonische Antwort: „Ich weiß es auch nicht, aber ich glaube, die Welt geht unter.“[4]

Er weiß vermutlich noch gar nicht, wie recht er hat… Zumindest, was das Sellraintal angeht.

Die Melach schwillt an, tritt über ihre Ufer und donnert entfesselt zu Tal. Es gibt Menschen, die sagen, es habe sich angehört, als flögen Düsenjäger im Tiefflug durch die ansonsten so friedliche Bergwelt. Das brüllende Ungeheuer reißt Autos und schwere Traktoren mit sich, als seien sie Spielzeug. Wie heißt es bei Theodor Fontane? „Tand, Tand ist das Gebilde von Menschenhand…“[5]

Küchen füllen sich – nein, nicht mit appetitlichem Kaffeeduft oder dem anheimelnden Geruch nach wärmender Suppe, sondern mit Schlamm und Dreck und Geröll bis unter die Decke! Als die Verfasserin dieser Zeilen die Videos von damals sieht[6], entfährt ihr unwillkürlich: „Ach du große Güte!“

Der außer Rand und Band geratene Bach ergießt Unmengen von bräunlichem „Letten“[7] in Keller und Häuser, Muren gehen ab[8], bringen Garagen zum Einsturz, in denen noch die Autos stehen, richten Zerstörungen schier unvorstellbaren Ausmaßes an. Handy-Verbindungen brechen zusammen, Stromnetze fallen aus, die Nacht ist so finster, dass selbst starke Taschenlampen das Grauen nicht erhellen können. Menschen flüchten in Panik in den höhergelegenen Bergwald und müssen später von den Helfern erst wieder „eingesammelt“ werden.

Im Hauptort Sellrain bildet die Melach ein Delta, welches eher an chinesische Reisfelder als an Tiroler Dorfgärten erinnert.

Feuerwehren aus allen Teilen Tirols eilen herzu, das Bundesheer wird herbeizitiert, Menschen werden eilends evakuiert, in höhergelegene Dörfer und Häuser.

Helfer versuchen, mit Sandsäcken zu bändigen, was nicht zu bändigen ist – und retten sich in letzter Sekunde vor der brüllend heranrasenden, tobenden Melach.

Erschrockene Politiker kommen am Tag darauf zum Schauplatz des grauenvollen Geschehens und sprechen, sichtlich erschüttert vom Ausmaß der Katastrophe, in die Mikrophone der Journalisten.[9] Helfer arbeiten buchstäblich bis zum Umfallen. Sie schaufeln und kehren die zähe braune Brühe aus Hausfluren und Kellern, schleppen angeschwemmte Steinbrocken aus Kellerschächten, zerren umgefallene Baumstämme von Stellen weg, wo sie nichts zu suchen haben.

Die Hilfsbereitschaft ist groß. Menschenleben sind keine zu beklagen, was an sich schon ein Wunder ist, aber es fließen Tränen der Erschöpfung, der Angst, der Verzweiflung. Es gibt Leute im Tal, die an diesem Tag Haus und Hof und ihre gesamte Habe verlieren…

Und Angelika und Max? Auch sie wurden evakuiert, in aller Eile. „Außi vom Haus, die Täler kommen, außi“[10], schreit ihnen der zuständige Feuerwehrmann entgegen, „nimmer umdrehen, nichts mitnehmen, außi, außi.“ Man fühlt sich unwillkürlich an Genesis 19:17 erinnert.[11] Das Feuerwehrauto bringt sie und andere in Sicherheit.

Was ist inzwischen rund um ihr Häuschen passiert? Oben am Hang hat sich eine riesige Mure zunächst einmal „dreigeteilt“. Auf Helikopter-Fotos sieht es aus, als ob eine Riesen-Hand drei Stränge braunen Hefeteig zurechtgelegt habe, um einen Hefezopf zu flechten, mit dem dicksten Strang in der Mitte.

Es ist aber kein feiner süßer Hefeteig. Es ist eine tödliche Bedrohung aus Schlamm, Felsbrocken und allem, was der Mure im Weg liegt und einfach von ihr mitgerissen wird. Einen Heu-Stadel findet man später zertrümmert viele Meter weiter im Garten von Angelikas Nachbarn.

Der am weitesten talwärts gelegene (linke) Murenstrang ergießt sich jenseits einer Brücke über Straße und Bach. Nun sind die drei Häuser sowie alle Dörfer oberhalb der Brücke abgeschnitten – Hilfe von weiter unten kann keine herauf, niemand kann hinunter ins Tal. Der rechte Murenstrang ergießt sich, ohne größere Schäden anzurichten, über Hang und Bach.

Die wütende Melach, von den Schlamm-Massen „verlegt“, tritt teilweise über die Ufer, nimmt auf ihrem Weg zur Straße dutzendweise sterbende Fische mit (die man hinterher tot in allen Vorgärten findet) und donnert als bedrohlich wilde, gurgelnde braune Flut weiter zu Tal.

Und der mittlere Murenstrang? Der schiebt sich wie ein zähes und trotzdem schnelles braun-graues Ungeheuer direkt auf das Haus von Angelika und Max zu. Zunächst bringt er entwurzelte oder einfach kurzerhand umgeworfene Bäume mit. Große Bäume. Sehr große…

Einen, mit einem Wurzelstock von gut und gerne anderthalb Metern Durchmesser, schiebt die Mure vor sich her. Zuerst legt sich der Riese quer, schräg vom Nachbarn zur Garage von Angelika und Max. Er zertrümmert dabei mal kurz den stabilen Holzzaun des Nachbarn.

Ein weiterer „Riese“ saust daher, aber der erste nimmt dem nächstfolgenden den Schwung weg. Und diesem bleibt dann nichts weiter übrig, als sich –  derart abgebremst – trotzig aufzubäumen. Angelika wird später sagen: „Und da stand der dann da. Als hätte ihn jemand absichtlich gepflanzt.“

Hätte der große Baum seinen „Kollegen“ nicht aufgehalten – wäre er in Angelikas Wohnzimmer gelandet. Und hätte das Holzhaus vermutlich irreparabel beschädigt! Oder deutlicher: es wäre nicht zu retten gewesen.

(Wer HAT ihn derart abgebremst?? Vor wem hat der Baum, die große stumme Kreatur, stillgestanden wie ein willfähriger Diener oder ein gehorsamer Soldat? Wir werden es gleich erfahren…)

Und die Mure selber? Die türmt ihren Schlamm und ihre Felsbrocken und Wurzelstücke ca. zweieinhalb Meter auf der anderen Seite der Melach auf, direkt gegenüber von Angelikas und Max‘ Haus. Dann bleibt sie stehen, wie eine Mauer[12]. Ein Feuerwehrmann, der kurz darauf ungläubig staunend davorsteht, sagt: „Wie abgeschnitten??!! Des isch a Wunder.“

Dennoch ergießen sich Schlamm und anderer Unrat auf die Grundstücke der Nachbarn, die schwere materielle Schäden zu beklagen haben.

Die tobende Melach hat noch Wasser im Bachbett übrig. Es füllt sich; das Wasser steigt. Es droht Angelikas und Max‘ Keller zu überfluten. Aber was geschieht? Das Wasser steigt – und plätschert ein wenig drohend über den Rasenstreifen. Am Maschendrahtzaun bleibt es stehen. Und versickert dann. Als hätte jemand eine mächtige Hand erhoben und zum Wasser gesagt: „Es ist genug! Stopp! Bis hierher und nicht weiter.“

Denn hier hatte Angelika 40 Jahre zuvor 15 „Wundertätige Medaillen“ vergraben. Und vergessen. Aber die Gottesmutter hat es NICHT vergessen.

Während andere mit Besen und Schaufeln, aber auch unter Einsatz von schwerem Gerät, „tonnenweise“ braune Brühe, Schlamm und Geröll aus ihren Kellern schaffen, sagt Angelika: „Na ja, ein bisserl Schlamm haben wir halt im Keller zusammengekehrt, so vielleicht einen Putzeimer voll.“ EINEN?! Nur einen!

Aus dem Holz des „Rettungsbaumes“ haben sie hinterher einen „Sessel“ für den Garten gesägt, samt Lehne und Armstützen. Die Sitzfläche ist groß genug, dass ein erwachsener Mensch darauf Platz nehmen kann. Auch ein Garten-Tisch wurde angefertigt.

Aus der Wurzel hat jemand einen urig knochigen Ständer geschnitzt – für eine große Muttergottes-Statue, die an jener Stelle steht, an welcher der große Baum den Lauf seines nicht minder bedrohlichen „Kollegen“ so wirkmächtig hemmte.

Angelika nennt sie ihre „Danke-Statue“….

Maria, breit den Mantel aus,

mach Schirm und Schild für uns daraus;

laß uns darunter sicher steh’n

bis alle Stürm‘ vorübergeh’n!

Patronin voller Güte, uns allezeit behüte

Verfasserin: Birgit Kaiser[13], Landsberg am Lech/Bayern, nach schriftlichen Berichten verschiedener Augenzeugen und persönlichem Gespräch mit meiner lieben Freundin Angelika Fritz


[1] Maria Absam

[2] aus: Gudrun Liener/Monika Bucher (Hrsg.), „Hochwasser: Katastrophenalarm in Sellrain“, Universitätsverlag Wagner, Innsbruck 2017, S.9

[3] Norbert Jordan

[4] Alfons Gruber, siehe „Hochwasser:…“, S.11

[5] Theodor Fontane (1819-1898), „Die Brück‘ am Tay“

[6] zu sehen unter you tube, Hochwasser(katastrophe) Sellrain 2015

[7] Tiroler Dialektwort für Schlamm

[8] Es waren insgesamt mehr als 50!

[9] allen voran, und überaus menschlich und teilnahmsvoll wirkend, Herr Landeshauptmann Günther Platter

[10] „Raus, raus!“

[11] „Während sie jene hinausbrachten, sprach der eine: ,Rette dein Leben, blicke nicht hinter dich, bleibe nicht stehen im ganzen Umkreis, sondern rette dich ins Gebirge, damit du nicht dahingerafft wirst.‘“ (Übersetzung von Hamp/Stenzel/Kürzinger), Zitat aus „Hochwasser:…“ S. 59

[12] siehe oben, Ex 14

[13] Autorin von „Christus im KZ“ (2011) und „Wunder… passieren jeden Tag“ (2012), beide erschienen im  Sankt Ulrich Verlag Augsburg

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