Interview mit Michał Micherdziński, einem der letzten Zeugen der Aufopferung des heiligen Maximilian Kolbe für einen Mitgefangenen, in der Nacht vom 29. auf den 30. Juli 1941 im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau.
Durchgeführt von Fr. Witold Pobiedziński
— Sie waren fünf Jahre lang ein Gefangener im Konzentrationslager Auschwitz. Sie haben den heiligen Maximilian Maria Kolbe persönlich kennengelernt. Was bedeutete die Anwesenheit dieses Mönchs für sie und die anderen Gefangenen?
Alle Gefangenen wurden bei ihrer Ankunft in Auschwitz mit den gleichen Worten begrüßt: „Ihr seid hier nicht in ein Sanatorium gekommen, sondern in ein deutsches Konzentrationslager aus dem es keinen anderen Weg heraus gibt als durch den Schornstein des Krematoriums. Juden können zwei Wochen leben, Priester leben einen Monat und der Rest drei Monate. Wem das nicht gefällt, kann sich auch direkt in den Draht werfen.“ Das bedeutete, dass jene ebenfalls getötet werden konnten, denn es floss ununterbrochen Starkstrom durch den Draht, der das Lager umgab. Mit diesen Worten zu Beginn beraubte man die Gefangenen jeglicher Hoffnung. Mir wurde unfassbare Gnade in Auschwitz gewährt, weil ich dem gleichen Block wie Pater Maximilian zugeteilt war und mit ihm in einer Reihe stand, als die Wahl der zum Tode Verurteilten stattfand. Ich war Augenzeuge seines heroischen Opfers, das mir und anderen Gefangenen die Hoffnung wiedergab.
— Welches waren die genauen Umstände, die zu dem Ereignis führten, das immer noch so großes und eifriges Interesse findet und welches Menschen dazu führt, die Frage zu stellen: Warum hat er das getan, um welcher Werte willen?
Vor 63 Jahren, am Dienstag dem 29. Juli 1941, etwa um 13:00 Uhr, gleich nach dem Mittagsappell heulten die Alarmsirenen auf. Mehr als 100 Dezibel fegten durch das Lager. Die Gefangenen verrichteten ihre Pflichten im Schweiße ihres Angesichts. Das Geheul der Sirenen bedeutete einen Alarm und der Alarm bedeutete, dass ein Gefangener fehlte. Die SS unterbrach sofort ihre Arbeit und begann, Gefangene für einen Anwesenheitsappell zum Lager zu bringen, um die Anzahl der Gefangenen zu überprüfen. Für uns, die beim Aufbau einer nahe gelegenen Gummifabrik arbeiteten, bedeutete das ein sieben Kilometer Marsch zurück zum Lager. Wir wurden gedrängt, schneller zu gehen.
Der Anwesenheitsappell offenbarte eine tragische Sache: Es gab einen Gefangenen unseres Blocks 14a, der fehlte. Wenn ich sage „unser Block“, meine ich Pater Maximilian, Franciszek Gajowniczek, andere und mich. Es war eine erschreckende Nachricht. Alle anderen Gefangenen wurden entlassen und durften zu ihren Blocks zurückkehren und uns wurde die Bestrafung angekündigt – strammstehen, ohne Mützen, Tag und Nacht, hungrig. Die Nacht war sehr kalt. Als die SS einen Wachwechsel hatte, wurden wir wie Bienen zusammengetrieben – welche außen standen, wärmten die in der Mitte und dann wurde gewechselt.
Viele ältere Menschen hielten der Strapaze des Stehens bei Nacht und Kälte nicht stand. Wir erhofften, dass uns wenigstens ein kleines bisschen Sonne wärmen würde. Und wir erwarteten auch das Schlimmste. Als es Morgen wurde, schrie der deutsche Offizier uns an: „Weil ein Gefangener aus eurem Block geflohen ist und ihr das nicht verhindert oder aufgehalten habt, sollen zehn von euch den Hungertod sterben, damit die anderen daran erinnert werden, dass auch die kleinsten Versuche zu fliehen nicht geduldet werden.“ Die Auswahl begann.
— Was geschieht mit jemandem, wenn er weiß, dass dies sein letzter Augenblick sein könnte? Welche Gefühle begleiteten die Gefangenen, die den Satz hören konnten, der sie zum Tode verurteilte?
Ich möchte mich lieber davor verschonen, mich an die Details dieser schrecklichen Situation zu erinnern. Ich werde allgemein erzählen, wie die Auswahl stattfand. Die ganze Gruppe ging zum Anfang der ersten Linie. Vorne, zwei Schritte vor uns, stand ein deutscher Kommandant. Er schaute einem in die Augen wie ein Geier. Er würde jeden von uns abschätzen und seine rechte Hand heben und sagen: „Du!“. Dieses „Du!“ bedeutete, dass man den Hungertod erleiden würde, dann würde er einfach weiter gehen. Die SS-Männer zogen den armen Gefangenen aus seinem Platz in der Reihe, schrieben seine Nummer auf und stellten ihn zur Seite zu den Wachen.
„Du!“ klang es, wie ein Hammer, der eine leere Brust trifft. Jeder fürchtete, dass der Finger jederzeit auf ihn zeigen würde. Die Reihe, die geprüft wurde, bewegte sich etwas voran, so dass zwischen den geprüften Linien und der nächsten Reihe eine Art Korridor entstand. Ein freier Platz von etwa drei oder vier Metern. Der SS-Mann schritt durch den Korridor und sagte wieder: „Du!, Du!“ Unsere Herzen dröhnten. Mit mächtigem Krach in unseren Köpfen pochte das Blut in den Schläfen und es schien uns, als würde das Blut aus unseren Nasen, Ohren und Augen schießen. Es war tragisch.
— Wie verhielt sich der heilige Maximilian während dieser Auslese?
Pater Maximilian und ich standen in der siebten Reihe. Er stand links von mir, vielleicht zwei oder drei Freunde standen zwischen uns. Als die Reihen vor uns sich immer mehr lichteten, begann sich eine große Furcht über mich zu legen. Ich muss sagen, ganz gleich wie entschlossen ein Mensch ist, wenn er zu Tode erschrocken ist, ist ihm keine Philosophie mehr nützlich. Glücklich ist der, welcher einen Glauben hat, welcher sich auf jemanden stützen kann, welcher jemanden um Gnade anrufen kann. Ich betete zur Muttergottes. Ich muss es ehrlich bekennen; nie zuvor und nie danach habe ich so eifrig gebetet.
Obwohl man immer noch das „Du!“ hörte, veränderte mich das innere Gebet genug, damit ich etwas ruhiger wurde. Menschen, die einen Glauben hatten, waren nicht dermaßen entsetzt. Sie waren bereit, das Schicksal mit innerem Frieden anzunehmen, fast wie Helden. Das ist sehr wichtig. Der SS-Mann ging an mir vorbei, mit seinen Augen schweifte er über mich hinweg und dann ließ er auch Pater Maximilian hinter sich. Sie „wollten“ Franciszek Gajowniczek, einen 41-jährigen Unteroffizier der polnischen Armee, der am Ende der Reihe stand. Als der Deutsche „Du!“ sagte und auf ihn zeigte, rief der arme Mann aus, „Jesus, Maria! Meine Frau, meine Kinder!“ Natürlich beachteten die SS-Männer die Worte des Gefangenen nicht, sondern schrieben nur seine Nummer auf. Gajowniczek bezeugte später, dass er, wäre er im Hungerbunker gestorben, nicht gewusst hätte, dass solch eine Wehklage, solch eine flehende Bitte über seine Lippen gekommen war.
— Als die Auslese beendet war, fühlten sich die übrig gebliebenen Gefangenen erleichtert, dass der Schrecken nun vorbei war?
Die Auswahl ging zu Ende und die zehn Gefangenen waren bereits ausgesucht. Es gab dann noch einen abschließenden Appell. Wir dachten, der Albtraum des Stehens hätte ein Ende: Unsere Köpfe schmerzten, wir wollten essen, unsere Beine waren geschwollen. Plötzlich begannen Unruhen in meiner Reihe. Wir standen in Abständen von der Länge unserer Holzschuhe, als plötzlich jemand anfing zwischen den Gefangenen nach vorne zu gehen. Es war Pater Maximilian.
Er machte kurze Schritte, da man in den Holzpantoffeln nicht weit ausschreiten konnte, denn man musste seine Zehen im Schuh anziehen, damit man die Pantoffeln nicht verlor. Er ging direkt auf die Gruppe der SS-Männer zu, die bei der ersten Reihe der Gefangenen stand. Alle erschauderten, denn das bedeutete den Bruch der Regel, auf der am meisten beharrt wurde und deren Zuwiderhandlung aufs Brutalste bestraft wurde. Das Verlassen der Reihe bedeutete den Tod. Neu im Lager angekommene Gefangene, die nichts vom Verbot wussten, die Reihe zu verlassen, wurden geschlagen, bis sie arbeitsunfähig waren. Das konnte dem Hungerbunker gleichgestellt werden.
Wir waren sicher, dass sie Pater Maximilian töten würden, bevor er es geschafft hatte, zu ihnen zu gelangen. Aber es passierte etwas Außerordentliches, das in der Geschichte von siebenhundert Konzentrationslagern des Dritten Reichs noch nie gehört wurde. Nie konnte ein Gefangener die Reihe verlassen, ohne bestraft zu werden. Es war so unvorstellbar für die SS-Männer, dass sie ganz verdutzt dastanden. Sie schauten einander an und wussten nicht, was geschah.
— Was geschah als Nächstes?
Pater Maximilian ging in seinen Pantoffeln, seiner gestreiften Uniform und seiner Schüssel an seiner Seite. Er lief weder wie ein Bettler noch wie ein Held. Er ging wie ein Mann, der sich seiner großen Sendung bewusst ist. Er stand ruhig vor den Offizieren. Der Lagerkommandant fand seine Sinne schließlich wieder. Wütend fragte er seinen Stellvertreter: „Was will dieses polnische Schwein?“ Sie hielten nach dem Übersetzer Ausschau, doch es stellte sich heraus, dass kein Übersetzer benötigt wurde. Pater Maximilian antwortete ruhig: „Ich will sterben für ihn.“ und zeigte mit seiner Hand auf Gajowniczek, der neben ihm stand.
Die Deutschen standen sprachlos mit vor Erstaunen weit offenem Mund. Für sie, die die weltliche Gottlosigkeit repräsentierten, war es unverständlich, dass jemand wünschen könnte, für einen anderen zu sterben. Sie schauten Pater Maximilian mit der Frage in ihren Augen an: Ist er übergeschnappt? Vielleicht haben wir nicht recht verstanden, was er sagte?
Schließlich wurde die zweite Frage vorgebracht: „Wer bist du?“ Pater Maximilian antwortete: „Ich bin ein polnischer katholischer Priester.“ Damit gestand der Gefangene, dass er ein Pole war, dass er aus der Nation stammte, die sie hassten. Weiter gab er auch zu, dass er ein Geistlicher war. Für die SS-Männer war der Priester ein Gewissensbiss. Es ist interessant, dass Pater Maximilian in seinem Gespräch nicht einmal das Wort „bitte“ verwendet. Mit seiner Aussage brach er die deutsche Autorität des usurpierten Rechts über Leben und Tod zu entscheiden, und er zwang sie das Urteil zu ändern. Er verhielt sich wie ein erfahrener Diplomat. Nur, dass er anstelle des Fracks, der Schärpe und der Medaillen, in seiner gestreiften Sträflingskluft, der Schüssel und den Schlappen dastand. Es herrschte tödliches Schweigen und jede Sekunde schien Jahrhunderte zu dauern.
Schließlich geschah etwas, das weder die Deutschen noch die Gefangenen bis heute verstehen. Der SS-Kommandant drehte sich zu Pater Maximilian um und sprach ihn förmlich mit „Sie“ an und fragte: „Warum wollen Sie für ihn sterben?“
Alle Grundsätze, auf die sich der SS-Mann zuvor berief, fielen auseinander. Einen Moment zuvor nannte er ihn „das polnische Schwein“ und jetzt wendet er sich mit „Sie“ an ihn. Die SS-Männer und die nicht autorisierten Offiziere neben ihm trauten ihren Ohren nicht. Nur ein einziges Mal in der Geschichte der Konzentrationslager sprach ein hochrangiger Offizier, der Tausende von Menschen ermorden ließ einen Gefangenen auf diese Weise an.
Pater Maximilian antwortete: „Er hat eine Frau und Kinder.“ Es ist wie der ganze Katechismus in einer Nussschale. Er lehrte jedermann die Wichtigkeit von Vaterschaft und Familie. Er war ein Mann mit zwei Doktoraten, die er sich in Rom mit „summa cum laude“ (der höchstmöglichen Auszeichnung) erarbeitet hatte, ein Schriftsteller, Missionar, akademischer Lehrer der Universitäten Krakau und Nagasaki. Er dachte, dass sein Leben weniger wert sei, als das Leben eines Familienvaters. Das war eine wundervolle Katechismus-Stunde!
— Wie reagierte der Offizier auf Pater Maximilians Worte?
Alle warteten darauf, was als nächstes passieren würde. Der SS-Mann war überzeugt davon, dass er der Herr über Leben und Tod sei. Er hätte anordnen können, ihn schrecklich zu schlagen, weil er gegen die am strengsten zu befolgende Regel verstoßen hatte, indem er aus der Reihe getreten war. Und noch wichtiger, darf ein Gefangener es wagen, Moral zu predigen?! Er hätte auch beide zum Hungertod verurteilen können. Nach einigen Sekunden sagte der SS-Mann: „Gut“. Er war mit Pater Maximilians Vorschlag einverstanden und gab zu, dass er Recht hatte. Es bedeutete, dass das Gute über das Böse siegte, über das maximal Böse.
Es gibt nichts Schlechteres, als einen Mann aus Hass zum Hungertod zu verurteilen. Aber es gibt auch nichts Höheres als sein eigenes Leben für einen anderen hinzugeben. Das Maximum des Guten hat gewonnen. Ich möchte die Antworten Pater Maximilians besonders hervorheben: Er stellte drei Mal die Frage und er antwortete drei Mal kurz und klar mit nur vier Worten. Die Zahl Vier steht in der Heiligen Schrift symbolisch für den vollkommenen Menschen.
— Wie wichtig war es für die verbleibenden Gefangenen Augenzeugen zu sein?
Die Deutschen ließen Gajowniczek in die Reihe zurücktreten und Pater Maximilian nahm seinen Platz ein. Die Verurteilten mussten ihre Holzpantoffeln ausziehen, da diese für sie bereits unnötig waren. Die Tür zum Hungerbunker wurde nur geöffnet, um Leichen herauszunehmen. Pater Maximilian ging als einer der Letzten hinein und half sogar anderen Gefangenen zu gehen. Im Prinzip war es ihr eigenes Begräbnis vor dem Tod. Vor dem Block wurden sie angewiesen, ihre gestreiften Uniformen auszuziehen und wurden in eine Zelle von ungefähr acht Quadratmetern Fläche geworfen. Ein wenig Sonnenlicht sickerte durch die drei Fensterstreifen auf den kalten, harten und nassen Boden und die schwarzen Wände.
Da geschah noch ein weiteres Wunder. Obwohl Pater Maximilian nur noch mit einer Lungenhälfte atmen konnte, überlebte er am längsten. Er lebte 386 Stunden in der Todeszelle. Jeder Arzt wird erkennen, dass das unglaublich ist. Nach dieser entsetzlichen Dauer des Dahinsterbens gab ihm der Scharfrichter in weißem medizinischem Anzug eine tödliche Injektion. Doch, als sei es noch nicht genug, er starb immer noch nicht … Sie mussten ihm noch eine zweite Injektion geben. Er starb am Vorabend der Himmelfahrt Mariens, seiner Herrin. Er wollte während seines ganzen Lebens arbeiten und sterben für Maria, die Unbefleckte. Es war die größte Freude für ihn an diesem Tag zu sterben.
— Um auf die erste Frage zurückzukommen, würden Sie uns bitte erläutern, was diese außergewöhnliche Einstellung Pater Maximilians für Sie bedeutete, die Sie vom Hungertod verschont geblieben sind?
Pater Maximilians Opfer wurde zur Inspiration für viele Werke. Es stärkte die Aktivitäten der Gruppe des Lagerwiderstands, der Untergrundorganisation der Gefangenen, und es teilte die Zeit in „vor“ und „nach“ dem Opfer von Pater Maximilian. Viele Gefangene überlebten das Konzentrationslager Dank der Existenz und der Tätigkeit dieser Organisation. Wenige von uns wurden gerettet, etwa zwei von hundert. Ich bekam Gnade, denn ich bin einer von diesen zweien. Franciszek Gajowniczek wurde nicht nur gerettet, sondern lebte noch weitere 54 Jahre.
Unser heiliger Mitgefangener rettete vor allem die Menschlichkeit in uns. Er war ein geistlicher Hirte im Hungerbunker, tröstete, führte Gebete an, ließ Sünden nach und entließ die Sterbenden mit dem Kreuzzeichen in die andere Welt. Er stärkte den Glauben und die Hoffnung in uns, die die Auswahl überlebten. Inmitten dieser Zerstörung, dieses Schreckens und des Bösen erneuerte er die Hoffnung.